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Stellungnahme der LAG Brandenburg e.V. zur Evaluation der risikoorientierten Qualitätsstandards für die Sozialen Dienste der Justiz in Brandenburg durch das DIS

Im Folgenden wollen wir unsere Position zur Evaluation der risikoorientierten Standards in Brandenburg darlegen.

 

In den Jahren 2010 bis 2015 begann ein vom OLG Brandenburg initiierter Qualitätsentwicklungsprozess, der durch eine hohe Partizipation der Fachkräfte gekennzeichnet war. Aus fast allen Dienstsitzen des Landes entsandte Kolleg:innen nahmen über fast zwei Jahre an regelmäßigen Seminaren mit Prof. Klug teil und arbeiteten an landeseigenen Standards.

 

Während des Prozesses der Erarbeitung wurde auch bald die Zielrichtung, die einzuschlagen ist, durch das OLG Brandenburg vorgegeben: Der Fokus hatte auf der Risikoorientierung zu liegen - mit der Konsequenz, vermeintlich risikoaufdeckende und risikominimierende Maßnahmen zum Schwerpunkt der Fallarbeit zu erklären. In der Praxis wurde die Eingruppierung in Fallgruppen, inklusive einer vorzunehmenden Einschätzung von „Rückfallgefahr“ und „Gefährlichkeit“ eingeführt. Daraus ergaben sich obligatorische Tätigkeitsvorgaben, die die Erhöhung bürokratischer Tätigkeiten im Rahmen der Aktenführung nach sich zogen. Was sich zulasten des ganzheitlichen Ansatzes der Sozialen Arbeit auswirkte, also der Unterstützung bei der Verbesserung individueller Lebenslagen, Beziehungsarbeit, Ressourcenorientierung, sozialer Teilhabe und Entstigmatisierung.

 

Dies stellte einen “kritisch diskutierten Paradigmenwechsel“ (vgl. Evaluationsbericht des DISW vom 13.07.2022) unseres Tätigkeitsfeldes dar, welchem eine Mehrheit der Kolleg:innen mit Ablehnung begegneten (vgl. Umfrage der LAG Brandenburg e.V. aus dem Jahr 2016).

 

Die Implementierung in die berufliche Praxis erfolgte durch Erlass des Ministeriums schnell. Die Kritik der Kolleg:innen und der LAG Brandenburg e.V. an den risikoorientierten Qualitätsstandards blieb seitens des OLG Brandenburg bedauerlicherweise ohne Resonanz. 

 

Wir als LAG Brandenburg e.V. erreichten jedoch im Rahmen eines Ministergespräches im September 2016 die Zusage für eine externe Evaluation. Seither mahnten wir deren Durchführung (von geeigneten Expert:innen aus dem Bereich der Sozialarbeitswissenschaft) an, um unsere neuen Standards an den fachlichen und ethischen Grundsätzen unserer Profession „messen“ zu lassen und uns hierdurch einer evidenzbasierten Praxis nähern zu können. Die neuen Standards sollten unseres Erachtens nach in ihrer „Wirkung“ und vor dem Hintergrund des „evidenzbasierten Versprechens“ (vgl. Klug) - nämlich der Reduzierung des Rückfallrisikos und der “Beherrschbarkeit von Risiken“ - bewertet werden.

 

Wir gingen davon aus, eine Evaluation würde die Effektivität und Wirksamkeit der risikoorientieren Praxis überprüfen. Nach unserem Erachten hätte die Evaluation möglichst nicht durch das OLG Brandenburg selbst in Auftrag gegeben werden sollen. Jedoch wurde dementsprechend verfahren. Das OLG Brandenburg verantwortete sowohl die Ausschreibung als auch die Zielformulierung für die Evaluation. Mitglieder eines sogenannten „Lenkungskreises“, welcher fortlaufend die Weiterentwicklung der Qualitätsstandards bearbeitet, wurden durch das OLG ausgewählt. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die LAG Brandenburg e.V. weder bei der Zielfindung, noch bei sämtlichen Phasen des Evaluationsprozesses ernsthaft beteiligt worden. 

 

Bei einer für alle Mitarbeiter:innen zugänglichen Einführungsveranstaltung des evaluierenden Institutes (DISW), inklusive dessen Gründungsdirektors Prof. Dr. Maelicke, keimte noch Hoffnung auf innovative Impulse auf. Im laufenden Prozess sickerten jedoch bereits erste Fragestellungen zum Gegenstand der Evaluation durch, die jede Illusion auf eine „echte“ Überprüfung risikoorientierter Standards in der Bewährungshilfe verdrängten.

 

Der LAG Brandenburg e.V. sind zwei Versionen eines Abschlussberichtes der Evaluation durch das DISW bekannt – vom 24.05.2022 sowie vom 13.07.2022. 

Mit der Vorlage der ersten Version eines Abschlussberichtes der Evaluation vom 24.05.2022 wurde die Zielformulierung bekannt:

 

„Die hier durchgeführte Evaluation basiert auf den Ergebnissen und daraus entwickelten Modifizierungen einer internen Anwendungsüberprüfung der Qualitätsstandards mit folgender Zielsetzung:

1. Orientierung für Handlungsabläufe und das methodische Vorgehen im Rahmen der Fallarbeit der Bewährungshelfer*innen: Nähere Betrachtung von Dokumenten und Standards

2. Landesweit vergleichbare Dokumentationsformen innerhalb der Proband*innen-Akten; Transparenz der Arbeit der Sozialen Dienste der Justiz nach innen und außen: Einschätzung der Arbeit mit Dokumenten und Standards

3. Priorisierung der Aufgaben der Bewährungshilfe: Fokussierung auf die wesentlichen Inhalte, nachrangige Aufgaben dennoch im Blick behalten: Bewertung der Bearbeitung kriminogener Faktoren, der Delikte und der Hilfe- und Unterstützungsprozesse“

 

Im Schlussteil des ersten Evaluationsberichtes vom 24.05.2022 unter Punkt 9.3. „Grenzen der Evaluation und weiterer Forschungsbedarf“ heißt es:

 

„In dieser zugrundeliegenden Methodologie kann also weder ein Experimentaldesign oder Quasi – Experiment (Datengrundlage einer Untersuchungs- und Kontrollgruppe) realisiert werden […]. Somit ist es nicht das Ziel der Evaluation, die Wirksamkeit des Evaluationsgegenstandes zu beurteilen, sondern aufgrund von Nutzungsverhalten, Einschätzungen der zentralen Akteursgruppen und Bewertungen ausgewählter Praktiker*innen zu dem Status Quo der Implementierung, zu den Rahmenbedingungen und Strukturen, zu den Effekten und Nebeneffekten zu erhalten. Dass die Ergebnisse der Evaluation nicht auf Fakten beruhen, ist für den weiteren Bewertungsprozess sowie bei der Ableitung der Konsequenzen zu berücksichtigen.“

 

Der Inhalt des letzten Satzes ist dann in einer zweiten Berichtsversion vom 13.07.2022 wie folgt „umgestaltet“ worden: 

 

„Dass die Ergebnisse der Evaluation nicht auf experimentellen Datengrundlagen in Form von randomisierten Untersuchungs- und Kontrollgruppen-Erforschung beruhen, bedeutet für die Validität der zur Verfügung stehenden Ergebnisse keine Einschränkungen, ist jedoch für den weiteren Bewertungsprozess sowie bei der Ableitung der Konsequenzen zu berücksichtigen.“

 

Unsere Erwartungen an die Evaluation wurden nicht umgesetzt. Die erneute „Anwendungsprüfung“ vorgegebener Standards führt unseres Erachtens nach nunmehr zu noch ausdifferenzierteren Vorgaben der Klienten- und Aktenführung.

 

Immerhin gelang es dem DISW einige fachlich vernünftige Akzente bzw. Begriffe zu setzen, wie: Findung einer „resozialisierenden Gesamtstrategie, „verbesserte soziale Integration“, „Vernetzung mit Trägern der sozialen Hilfe und Unterstützungssystems“. 

 

Es gelang dem DISW auch, die aktuelle Einstellung zu den vorgegebenen Standards der Kolleg:innen durch Befragungen im Abschlussbericht festzuhalten: „Diese Tendenz zeigt sich auch bei der Frage nach der Verbesserungswürdigkeit der Standards: Hier stimmen mit 72 % fast dreiviertel der Antwortenden (eher) zu. Der Umgang mit der teilweise recht deutlichen Ablehnung […] sollte in der weiteren Diskussion Beachtung finden.“ Immerhin - auch die Partizipation der Kolleg:innen im nun anschließenden Anpassungsprozess wurde empfohlen.

 

Die Bewährungshilfe im Land Brandenburg steht weiterhin vor der ungeklärten Frage, ob es richtig war, Sicherheits-, Kontroll- und Verwaltungsaspekte, dem Resozialisierungsgedanken und an der eigenen Profession orientierten Methoden überzuordnen. Bis zur Einführung der neuen Standards hatten wir in Brandenburg eine Straferlassquote von ca. 80 % (Ergebnisse eigener Erhebungen sowie Auswertungen der Statistikbögen). 

 

Handlungsanreize die aus den aktuellen Standards resultieren, beziehen sich auf die möglichst standardgerechte Verwaltung des Falles, inklusive passender Akte, deren Führung ausschließliches Kriterium der Bewertung im Rahmen von Geschäftsprüfungen sind. Die Entwicklung der Klient:innen bleibt nach unserem Erachten in der Bewertung der Fallarbeit eine vernachlässigte Größe. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Klient:innen auch zunehmend von Kolleg:innen in entsprechender „Fallmanagermentalität“ behandelt werden könnten. 

 

Die standardisierte „Abarbeitung“ des „Falls“ berücksichtigt nicht die Komplexität der Problemlagen, fördert ein „mechanisches“ Bild von Täter:innen und impliziert kausale Wirkungszusammenhänge, zum Beispiel zwischen der Deliktbearbeitung als Methode und einer erhofften Risikoreduzierung. Der rückfallpräventive therapeutische Effekt einer Deliktbearbeitung ist unzureichend belegt. Jedoch ist sie unerlässlich für diagnostische und prognostische Prozesse. Ihr - in technokratischer Weise - pauschal eine positive Wirkung zu unterstellen, halten wir für wenig professionell. Somit sollte sie nicht zwingend obligatorisch vorgegeben sein, sondern zum Methodeninventar gehören, welches bedarfsorientiert zur Anwendung kommen kann. Die aktuellen Qualitätsstandards im Land Brandenburg erfassen ausschließlich quantitative, jedoch keine qualitativen Merkmale, wie beispielsweise strukturelle Probleme wie den Mangel von bezahlbarem Wohnraum, keine Therapeut:innen für Sexualstraftäter:innen, nicht funktionierende Zusammenarbeit mit anderen Behörden (Jobcenter, Ausländerbehörde, etc.).

 

Die Mitglieder der LAG Brandenburg e.V. bleiben mehrheitlich bei der Überzeugung, dass wir uns in der Bewährungshilfe auf den ganzheitlichen Ansatz als Wesenskern der Sozialen Arbeit besinnen sollten. Dieser ist durch Unterstützung bei der Verbesserung individueller Lebenslagen und Ressourcenorientierung gekennzeichnet. Klient:innen sollen motiviert werden, Grundbedürfnisse sozial akzeptabel und mit legitimen Mitteln zu erfüllen. Dabei sollte der Aspekt der Risikoorientierung, bzw. die RNR-Prinzipien Berücksichtigung finden. So entsprechen wir dem gesetzlichen Auftrag, dem Verurteilten „helfend und betreuend“ zur Seite zu stehen.

 

Blickt man sich diesbezüglich in der Bundesrepublik um, kann man feststellen, dass die Landesregierung in Niedersachsen mit dem neuen Koalitionsvertrag einen bemerkenswerten Schritt in die, aus Sicht unserer Profession, fachgemäße Richtung gemacht hat:

 

„Die beim AJSD angesiedelte Bewährungshilfe werden wir stärken. Dokumentationspflichten werden wir zugunsten von sozialer Arbeit und Unterstützung zurückführen. Die Professionalisierung und Qualitätsentwicklung werden wir durch eine Überarbeitung der Standards weiterentwickeln und den risikobasierten Ansatz hin zu einem ganzheitlichen Ansatz weiterentwickeln, der neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft und Erfahrungen aus anderen Ländern in den Blick nimmt.“

 

(Auszug aus dem Koalitionsvertrag zwischen der SPD Landesverband Niedersachsen und Bündnis90/Die Grünen Niedersachsen (2022 - 2027))

 

Einen solchen Paradigmenwechsel hatten wir uns auch für die Bewährungshilfe im Land Brandenburg erhofft.